Ich & Italo

Ich habe Italo-Disco 1983 für mich entdeckt. Es war „meine“ musikalische Antwort auf die hochkommerzialisierte Synthiepop-Perfektion von damals. Was aus den italienischen Studios kam klang auffällig anders. Für mich war es purer „sound of the underground“. Anspruchslos, schlitzohrig, low budget und zu 100% ehrlich. Italo-Disco war der markante Gegensatz zu den europäischen, äusserst chartorientierten Major Label-Produktionen. Als junger Musikkonsument gefiel mir dieser Aspekt sehr. Die Leute in meiner Schule hörten Mötley Crüe und Modern Talking, da bin ich sofort in Richtung Italo-Disco abgebogen. Letzten Endes entdeckte ich dank Italo-Disco die Intensität der elektronischen Tanzmusik und die DJ-Kultur.

Ich kann mich gut daran zurückerinnern, dass Italo-Disco stets für ein musikalisches Randphänomen gehalten wurde: Depeche Mode für Arme und Rückständige – so lauteten etwa boshafte Kommentare hinter vorgehaltener Hand. Dass die Italo-Disco-Szene von echten Musikern und erfahrenen Studioproduzenten verkörpert wurde, davon nahm man kaum Notiz. Besonders störend in jener Zeit: Sämtliche kommerziell erfolgreiche Produktionen (zunächst Gazebo, Ryan Paris, Righeira und Raf – später Baltimora, Spagna, Den Harrow und Sabrina) wurden bedauerlicherweise als „Italo-Pop“ deklariert. Diese und ähnliche Vertreter der Italo-Disco-Bewegung wurden also im pophistorischen Kontext fälschlicherweise im gleichen „Topf“ wie Eros Ramazzotti, Zucchero oder Gianna Nannini geworfen.

Und genau hier liegt meines Erachtens das grösste Malheur in der Geschichte von Italo-Disco! Das Genre hatte von Beginn an ein Identitätsproblem, das leider bis heute nachwirkt.
Keines der damals direkt involvierten Mailänder Labels erkannte die Notwendigkeit Italo-Disco entsprechend professionell und seriös zu vermarkten – auch dann nicht, als mit dem Studioprojekt „Den Harrow“ europaweite Top 10-Erfolge verzeichnet wurden. „Wir hielten uns bedauerlichweise nicht an die Regeln des Musikbusiness“ sagte mir Stefano Pulga (Produzent u.a. des Italo-Disco-Klassikers „Another Life“ von Kano) in einem Interview.
Die daraus resultierenden Folgen waren gravierend. Man überliess beispielsweise einen Grossteil der Kommerzialisierung an Dritte, in Deutschland etwa an Bernhard Mikulski von Zyx Records. Der tüchtige Mikulski erfand übrigens die Bezeichnung „Italo-Disco“ – die Italiener waren selbst nicht in der Lage ihrem Genre einen Namen zu geben. Was für ein Paradox!
Mit einer solchen – für Italien typische – Wir-leben-in-den-Tag-hinein-Einstellung beförderte sich der italienische Synthiepop in die Obsoleszenz.

Noch kurz zum Thema Giorgio Moroder: Italo-Disco wird stets mit Moroder in Verbindung gebracht. Diese These ist aber meiner Meinung nach falsch. Für mich gibt es da nur marginale Berührungspunkte. Moroder hat 1977 den Electropop erschaffen und ja er war bzw. ist Italiener. Seine synthetisch komplexe Musik entstand in den klimatisierten Hightech-Studios von München und Los Angeles. Italo-Disco hatte hingegen eine ganz andere Nabelschnur:
Die britische New Wave- und Synthiepop-Bewegung! In der DNA von Italo-Disco befand sich eine reine Working Class-Kultur. Da steckte viel Provinz und wenig Glamour drin.

Text: Bruno Gullo

© XENONMUSIC

Persönliches
Bruno Gullo, 1970 in Basel geboren.
Vinyl-Enthusiast, Dancefloor-Nostalgiker, Italo-Disco-Szenenkenner, Musikblogger.
Aficionado der analogen DJ-Kultur und des Clubsounds der 80er- und 90er-Jahre.

Projekte
2010: Produktion des Bildbandes «Italo-Disco – Electropop-Romantik im Discolicht»
2011: Postproduktion (deutsche Fassung) des Dokumentarfilms «Italo-Disco – The Sound of Spaghetti Dance»
2012: Interviewarbeiten in Italien mit mehreren Italo-Disco-Sängern und Produzenten
2013: Veranstalter der Basler Ausstellung «WLID – We Love Italo-Disco»
2017: Gestaltung des Webauftrittes «xenonmusic.com»
2022: Realisierung des Discjockeys-Projekts «weplayvinyls» und des Themenblogs «Vinylgeschichten»